wirtschaft? wirt-schaft

Kleine Zeitung, 3.10.08, Seite 4

Ein Happy End gibt's nur in Hollywood

Was die Krise lehrt, ist eine alte Sache, die von der „gierigen Klasse“ verachtet worden ist: Märkte – und bei dem Volumen speziell die Finanzmärkte – brauchen gute Spielregeln.

MANFRED PRISCHING

Nach dem Scheitern des Kommunismus 1989 war die Sache klar: Die westliche Marktwirtschaft ist der Sieger im Systemwettstreit. Alle wollen Märkte. Denn alle wollen reich werden. Und viele verkündeten: Je ungehinderter die Märkte, desto schneller geht die Sache mit dem Reichtum. Weg mit allen Begrenzungen, wir haben einen Wundermechanismus, der sich selbst regelt, in geheimnisvoller Vernunft.

Es gibt auch ein anderes klassisches Denkmodell: Möglicherweise ist das System zwar erfolgreich, unterhöhlt aber seine eigenen Grundlagen. Am Ende sind es Prozesse der Selbstzerstörung, die einmal mehr die „Systemfrage“ aufwerfen: ausnahmsweise nicht die ökologischen Probleme einer äußeren Begrenzung, sondern die Probleme defizienter Spielregeln im System selbst.

Wohl hat es auch in den letzten Jahrzehnten diverse Krisen an der Peripherie gegeben, von Lateinamerika bis Ostasien; wohl gab es die Enttäuschungen der Fusionswellen und den Zusammenbruch der „new economy“, dieser sonderbaren Symbiose von technologischem Futurismus und finanzwirtschaftlicher Euphorie. Aber in der derzeitigen Krise geht es an die Substanz, die Krise findet im „Zentrum“ statt, in den Kernländern. Die finanziellen Drehscheiben dieser Welt wackeln. Nichts mehr zeigt sich von der behaupteten Rationalität, Berechenbarkeit und Selbststabilisierung. Wir haben es mit manisch-depressiven Märkten und hasardierenden Institutionen zu tun.

Seit den Achtzigerjahren wurde die Finanzwirtschaft von allen hemmenden Spielregeln befreit. „Junk bonds“ haben Erwartungen geweckt. Die Deregulierung von Netzwerkindustrien und Entstaatlichungsprogramme haben neue Märkte geschaffen. Neue Rechnungslegungsvorschriften haben fantasievolle Unternehmensdarstellungen ermöglicht. Neue „Produkte“ haben den „Bluff-Gehalt“ des Systems ermöglicht oder gesteigert. Dann platzte vor wenigen Jahren die dot.com-Blase. Jetzt ist das Immobilienbubble geplatzt. Demnächst schlittern wir in den Rohstoffboom – bis auch er platzen wird.

Wie im Casino

Die Finanzwirtschaft hat sich von der Realwirtschaft abgelöst. Dass die Jubelsituation „kippen“ würde, haben alle gewusst und Experten haben seit Jahren über eine „harte“ oder „weiche“ Landung spekuliert. Die „Ökonomik der wunderbaren Geldvermehrung“ hat leider ein Ablaufdatum: Häuser auf Kredit kaufen und in ihnen auf Kredit leben; das Ganze später auch noch mit Gewinn verkaufen und sich ein größeres Haus auf Kredit kaufen und so weiter – das ist ein Pyramidenspiel, das nur eine Zeit lang läuft. Die „Analysten“ haben nicht analysiert, sondern an das Schlaraffenland geglaubt.

Manchmal sind Visionen wirklich eine Krankheit: wenn die Leute glauben, dass man mit ein bisschen Geschick dauerhaft 15 Prozent oder noch viel mehr an jährlichem Ertrag erzielen könne. Alle spielen Wall Street und glauben, sie befinden sich in einem amerikanischen Film, in dem das Happy End garantiert ist. Aber das Happy End gibt es nur für einige: für jene, die im gigantischen Umverteilungsspiel die bessere Nase, die besseren Informationen und die besseren Tricks haben – und das sind nicht jene, die für ihre Pension vorsorgen wollen. Tatsächlich lässt sich mit einem Bubble viel Geld verdienen: wenn man früh einsteigt, dann allen Leuten mit Nachdruck erklärt, dass jeder ein Idiot ist, der dort nicht mitmacht und so rechtzeitig wieder aussteigt, dass nur die Dummen übrig bleiben. Viele Profis sehen ihre Erwartungen erfüllt, aber sogar von ihnen fallen zuletzt ein paar auf die Nase; nicht nur die Amateure, die man eigentlich ausnehmen wollte. Das hat mit der Größenordnung des Casinos zu tun, in dem wir uns befinden; mit der Leichtsinnigkeit, mit der man „Wertpapiere“ in die Welt gesetzt hat, die, sobald der Boom abbröckelt, nicht mehr viel wert sind, und mit der Verflechtung der Institutionen, angesichts derer ein Zusammenbruch weitere nach sich zieht.

Die Klasse der Gierigen

Das gibt insgesamt ein neues Szenarium, mit dem niemand umgehen kann. Irgendwelche Anstöße genügen, dann machen die Banken eine Kehrtwendung zur Vorsicht, dazu kommt Inflationsdruck, manche Leute kommen nicht mehr über die Runden, Kredite müssen abgeschrieben werden, Derivate sind nichts mehr wert, Krise. Dann gibt es den Crash bei den Finanzinstitutionen; Rettungsaktionen; voreilige Verkündungen des Sieges über die Krise. In Wahrheit geht sie weiter und das Spiel wiederholt sich. Niemand weiß, wie stark sich die Krise noch in die reale Wirtschaft hinüberspielen wird.

Mit einem solchen Geschehen schießt man sich ins eigene Knie. Denn es gibt keinen besseren Beweis für das kapitalismuskritische Postulat von der Privatisierung der Gewinne und der Sozialisierung der Verluste als die gegenwärtige Situation: Zuerst cashen „sie“ ab, dann machen sie sich aus dem Staub und die Zeche zahlt der Steuerzahler, weil Milliarden Dollar in das System fließen müssen, damit noch größerer Schaden verhindert wird. Und es gibt keinen besseren Beweis für die Unverantwortlichkeit von Managern, die zuerst ihre hohen Einkommen mit Risiko und Verantwortung begründen und die sich im Zusammenbruch nicht ohne ein paar zusätzliche Millionen in der Tasche verabschieden.

Was die Krise lehrt, ist im Grunde eine alte Sache, die von der „gierigen Klasse“ verachtet worden ist: dass Märkte gute Spielregeln brauchen – und Finanzmärkte, bei diesem Volumen und dieser globalen Verflechtung, ganz besonders. Denn der nächste Boom ist im Anlaufen: Es gibt genug Leute, die noch einmal ganz schnell ganz viel Geld machen wollen und das geht nicht, wenn man sich auf die Mühen der wirtschaftlichen Ebene beschränkt. Es trägt zur Kraft eines Booms bei, dass jene, die die großen Gewinne machen, Erwartungen definieren, sodass auch jene, die eigentlich nicht mitspielen wollen, zunehmend unter Druck geraten. Wenn nämlich alle anderen Geld scheffeln, gerät jedes seriöse Wirtschaften – mit normalerweise deutlich geringeren Erträgen – unter Rechtfertigungsdruck. Es wird hektisch, kurzfristig, heuchlerisch; denn nicht der langfristige Unternehmenserfolg, sondern die nächste Bilanz zählt. Mögliche Nutznießer revoltieren, wenn Erträge geringer sind als anderswo und dann spielen letzten Endes auch die Widerspenstigen mit, verschärfen den Boom und treiben erst recht alles in die Krise.

Natürlich bleibt es dabei: Das große Alternativkonzept ist nicht in Sicht. Niemand wünscht sich die autoritäre, halbierte Marktwirtschaft Chinas, den Geheimdienst-Kapitalismus Russlands oder den Nostalgie-Sozialismus Kubas. Aber vielleicht ist der Turbo- oder Casino-Kapitalismus nicht die einzige Variante, die uns einfallen kann. Denn wir haben derzeit keine kurzfristige Panik vor uns, die einmal „passieren“ kann; die Krise entspricht jener Systemlogik, die in den letzten paar Jahrzehnten gebastelt wurde. Rätselhaft ist, dass sich wirtschaftliche Eliten seit geraumer Zeit so ungeniert verhalten, als ob sie es kaum erwarten könnten, endlich wieder eine ordentliche Systemdiskussion oder einen saftigen Klassenkampf auszulösen. Es ist kein Vorrecht der politischen Elite, zuweilen in Zustände des Wirklichkeitsverlustes zu geraten.

Manfred Prisching ist Professor für
Soziologie an der Universität Graz

Hofrat
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