Kleine Zeitung, 19. Jänner 2009, Seite 6
Europa und das tschechische Lehrstück
Alles schimpft über die Tschechen. Dabei halten sie der EU nur einen Spiegel vor.
Prag im Winter. Es ist weit nach Mitternacht. Ein eisiger Wind fegt durch die verwinkelten Gässchen und über die verlassenen Plätze der Altstadt. Auf der Karlsbrücke kniet ein Bettler im Schnee. Vor dem Geburtshaus von Franz Kafka torkelt ein Betrunkener über die Straße. Ein paar Schritte weiter, vor der Altneusynagoge, wo Rabbi Löw der Legende nach aus Lehm den Golem schuf, hält im Halbdunkel eines Hauseingangs ein Polizist Wache.
Es ist eigenartig, aber der Zauber des alten, vielsprachigen, des Goldenen Prag, das mit der Vernichtung der Juden und später mit der Vertreibung der Deutschen verloren ging, wird erst dann spürbar, wenn die gigantische Kitsch-Maschinerie, die diese Vergangenheit tagsüber unablässig beschwört, in der Nacht ruht und die Horden nostalgiesüchtiger Touristen aus aller Herren Länder längst in ihren Hotelbetten schlafen.
Mit Europa verhält es sich ganz ähnlich: Nach Frankreichs umtriebigem Präsidenten Nicolas Sarkozy, der mit viel imperialem Getöse versuchte, Europa und die Welt in Ordnung zu bringen, hat mit Jahreswechsel das kleine Tschechien den EU-Ratsvorsitz übernommen, und schon nach wenigen Tagen treten wieder offen die Widersprüche zutage, in denen Europa seit jeher lebt.
Es ist der alte Gegensatz zwischen nationaler Selbstbehauptung und Vertiefung, zwischen dem Bestreben der politischen Eliten, Europa zu einem starken politischen Gebilde zu einen, und der Urangst vieler seiner Bürger, ihre Identität zu verlieren, der in diesen kalten Jännertagen groteske Blüten treibt.
Am symbolträchtigsten kommt dieser Gegensatz in der kindischen Weigerung des europaskeptischen tschechischen Präsidenten Václáv Klaus zum Ausdruck, am Hradschin die Europafahne zu hissen. Diese Kasperliade hat in Europa für viel Aufsehen gesorgt. Ergänzt durch einige ungeschickte Äußerungen, die Premier Mirek Topolanek zuletzt vor dem Straßburger Europaparlament über den Vertrag von Lissabon tätigte, werden Klaus’ Eskapaden von den Supereuropäern in Brüssel gerne als Beleg für die europapolitische Unreife der Tschechen genommen.
Doch die Oberlehrer sollten sich lieber selber an der Nase nehmen, anstatt die Tschechen wie Lausbuben an den Ohren zu ziehen. Zeigt doch der „Skandal“ um Stehklos, Autobahnen in Hakenkreuzform und schwule Priester, den der Künstler David Cerny mit seinem Kunstwerk „Entropa“ hervorgerufen hat, was für ein dünner Firnis der oft beschworene europäische Geist in Wahrheit ist.
Es genügt, dass ein als notorischer Provokateur bekannter Künstler ein paar platte Vorurteile aufwärmt, um zwischen den Ländern der Union ernsthafte diplomatische Verwicklungen auszulösen.
Ob gewollt oder ungewollt: Mit seiner Brüsseler Schwejkiade hat Prag den Europäern einen Spiegel vorgehalten. Unser Ego ist so schwach, dass wir nicht einmal über uns selber lac/hen können. Für diese Lektion muss man den Tschechen ewig dankbar sein.